Seitdem man mir in der Bremer Klinik Links der Weser fünf Bypässe in die Brust eingenäht hat, werde ich ganz von alleine um Mitternacht wach. Ich kann dann erst einmal nicht weiterschlafen. Dann endlich, nach ungefähr einer Stunde, schlafe ich wieder ein.
Als mich die jungen Leute im Frühjahr 2014 angerufen hatten, ob ich sie im Weidenschloss trauen würde, bin ich wie gewöhnlich abends ins Bett gegangen und wie gewöhnlich wurde ich wieder um Mitternacht wach. Doch diesmal war alles anders.
Da bewegte sich doch etwas auf meiner Brust? Unser kleiner Cocker Spaniel konnte das nicht sein. Dem sind die Betten verboten. Aber welcher Cocker ist schon gehorsam? Wenn meine Conny und ich eingeschlafen sind, klettert er ganz leise und vorsichtig an Connys Fußende und kuschelt sich dort ein. Ich habe ihn mehrmals unsanft runter geworfen. So kommt er nur morgens in mein Bett, wenn ich aufgestanden bin.
Wer oder was bewegte sich dann auf meinem Bauch und meiner Brust? Mäuse konnten das nicht sein. Die hätte unser Hund Cooper sofort bemerkt, auch wenn er wieder an Connys Fußende geschlafen hätte. Mäuse gibt es auch in unserer ganzen Wohnung nicht. Conny bekommt jedes Mal einen Schreikrampf, der das ganze Haus wackeln lässt, wenn sie eine Spinne oder eine Maus sieht. Also Mäuse oder Spinnen sind ausgeschlossen. Aber was war es dann?
Ich blieb zu meiner gewohnten Zeit um Mitternacht ganz still liegen und wartete ab, was nun passieren würde. Da bewegte sich doch etwas meinen Bauch herauf und dann über meine Rippenbogen und schließlich über mein Brustbein. Da blieb dieses etwas.
Als ich ganz langsam meine Augen öffnete, saß da tatsächlich etwas, was ich nur von Kinderbildern kannte. Meine Enkelkinder haben solche Kopffüßler immer wieder gemalt. Da saß tatsächlich ein richtiger Kopffüßler auf meinem Brustbein. Gut, dass Conny schlief. Sie hätte sonst das ganze Haus zusammengeschrien.
Er merkte, dass ich wach wurde und ihn ansah. „Hallo“ sagte er, „Ich bin der Silbergraue.“ „Hallo“ antwortete ich, „Ich bin Uwe.“ „Ich wollte dich nicht wecken“ entschuldigte er sich, „aber da du eine Trauung im Weidenschloss machen sollst, wollte ich dich kennen lernen und vielleicht können wir ja Freunde werden.“
„Was hast du mit dem Weidenschloss zu tun?“ fragte ich. „Oh, dass ist eine lange und anfangs auch traurige Geschichte“, meinte er. „Willst du sie hören?“ „Ja, natürlich!“ Ich bin immer neugierig auf gute Geschichten.
Er dämpfte seine Stimme. „Hör gut zu, damit Conny nicht aufwacht. Ich muss leise sprechen, denn sonst schreit sie das ganze Haus zusammen.“
Er setzte sich bequem auf meinem Brustbein hin und kreuzte seine Strichbeine übereinander. Eigentlich bestand er nur aus einen runden Kopf und zwei Strichen, die seine Beine waren. Dann hatte er direkt an seinem runden Kopf noch links und recht zwei Striche, die er bewegen konnte und wie Arme und Hände benutzte. Große Ohren hatte er auch. Er sah wirklich merkwürdig aus. Es war gut, dass Conny schlief.
„Vor sehr vielen Jahren, als Schiffdorf nur aus ein paar wenigen Bauernhäusern bestand und es noch keine befestigten Straßen gab, waren zwei Katzen auf dem Weg „Am Orint“ bei einem großen Bauern angestellt, die Mäuse und andere Nagetiere wegzufangen, damit sie nicht die Lebensmittel und andere Sachen an- und auffraßen. Man kann Mäuse ja nicht erziehen. Die sind von Natur so. Die fressen alles an und auf.
Die Katze war grau und der starke Kater war silberfarben. Meistens konnten sie sich gut leiden und legten sich auch in der Mittagssonne eng nebeneinander zum Mittagsschlaf. Manchmal haben sie sich auch gezankt und dann mit ihren scharfen Krallen die Ohren zerkratzt.
Irgendwann im Jahr hatten sie sich ganz doll lieb. Die Graue wurde runder und runder und gebar vier Katzenjungen. Alle vier waren grau und silbergrau gemischt. Von Vater, dem Kater, hatten sie die Silberfarbe und von der Mutter die graue Farbe geerbt.
Die Mutter, die Graue, war ganz lieb und fürsorglich zu den Kleinen und hatte auf dem Heuboden in der hintersten Ecke, wo niemand hinkam, ein warmes kuscheliges Nest für ihre Babys eingerichtet. So kam es, dass die Bauern die vier kleinen Katzenbabys gar nicht bemerkten. Erst als sie schon alleine auf Entdeckungsreisen gehen konnten, wurden sie von den Bauern bemerkt. Die freuten sich aber gar nicht, sondern waren ärgerlich dass sie nun zusätzlich vier kleine „Milchsäufer“ durchzufüttern hatten.
Was tun? Die Bauern berieten sich lange und ausgiebig. Endlich kam einer auf die Idee, dass die Kleinen weg müssen. Sie irgendwo auf einem Feld auszusetzen würde nichts bringen, denn die Mutter würde sie suchen und finden und vielleicht kämen sie auch alleine wieder auf den Hof.
Endlich sagte der alte Großvater nur ein Wort: „Katzenteich!“
Ja, meinten alle, das wäre wohl die beste Lösung. Der Großknecht sollte die Kleinen fangen und in einen Sack stecken. Dann sollte er einen Feldstein dazu tun und den Sack fest verschnüren und alles zusammen in den damals noch tiefen Katzenteich werfen. Dann würden die Kleinen alle ertrinken und die Bauern hätten Ruhe vor den „Milchsäufern“.
Als die Mutter gerade dabei war, Mäuse für ihre Jungen zu fangen, schnappte sich der Großknecht die vier Kleinen und tat alles so, wie man es ihm aufgetragen hatte. Am Katzenteich angekommen warf er den Sack mit den vier kleinen Katzen und den Feldstein in den Teich. Natürlich haben die kleinen Katzen jämmerlich miaut und geschrien. Sie haben gezappelt und ihre kleinen Krallen ausgefahren. Endlich gab der alte morsche Sack nach und in letzter Sekunde konnten die vier kleinen Katzen da heraus kriechen und an der Wasseroberfläche nach Luft schnappen.
Die meisten Katzen werden im Mai geboren, wenn es immer wärmer wird und die Maisonne alles zum Blühen bringt. Aber diese vier Katzenjungen waren zu spät dran. Es war schon Herbst und wurde empfindlich kalt. Der Katzenteich lag weit weg von ihrem Zuhause und die vielen Häuser, die heute am Katzenteich liegen, waren auch noch nicht da.
Wohin? Es war bitterkalt und stockdunkel. Die Katzenmutter, die immer für alles einen guten Rat wusste, war nirgendwo zu finden. Sie suchte ganz verzweifelt auf dem Bauernhof nach ihren Jungen und fand sie nicht.
Als die Kleinen mal aufhörten zu miauen, hörten sie mit ihren sehr guten spitzen Ohren ein Gemurmel von den alten vier Kopfweiden, die um den Teich standen. Sie waren alle schon innerlich hohl und meinten, bevor sie umgehauen würden, wollten sie noch eine gute Tat tun und die Katzenjungen in sich aufnehmen. Damit bekam jedes Katzenjunge eine eigene neue Wohnung in einem alten Kopfweidenbaum.
Als sie sich in ihrer neuen Wohnung eingerichtet hatten, waren sie so müde von der ganzen Aufregung, dass sie ganz schnell einschliefen und von ihrer Mutter, der Grauen, träumten.
Es wurde Winter mit Frost und viel Schnee. Die vier Katzenjungen hatten gemerkt, dass sie nicht mehr zurück zu ihrer Mutter konnten. Sie hatten sich aber auch an die neue Wohnung – die vier alten Kopfweiden – gewöhnt. Sie fanden ihr neues Zuhause ganz schön, so dass sie nie wieder weg wollten.
Als die Sonne im März wieder langsam wärmer wurde, steckten sie ihre Köpfe aus ihren neuen Zuhause heraus und was konnte man erkennen: Silbergraue Weidenkätzchen.
So ist es bis heute geblieben, erzählte mir der Kopffüßler auf meinem Brustbein.
Aber eines konnten die alten Kopfweiden, den Katzenjungen nicht geben, nämlich die wirkliche Liebe, die sie bei ihrer Mutter, der Grauen, kennen gelernt hatten